Panzer und Granaten: Die russische Armee hinterlässt in der Provinz Charkiw ein gigantisches Waffenarsenal Die erfolgreiche Offensive der Ukrainer offenbart verheerende Verluste der russischen Truppen. Zahlreiche Fahrzeuge und Panzer sind in die Hände der Ukrainer gefallen - viele davon sind funktionstüchtig.

Jonas Roth 12.09.2022, 18.03 Uhr

Ein ukrainischer Soldat neben einem zerstörten russischen Panzer in der Nähe der befreiten Stadt Balaklija in der Provinz Charkiw.
AP

Glaubt man dem russischen Verteidigungsministerium, verläuft in der Ukraine derzeit alles nach Plan: Laut einer Mitteilung vom Samstagnachmittag sollen russische Truppen aus Balaklija und Isjum "zur Verstärkung" in Richtung Donezk verlegt werden, "um zuvor festgelegte Ziele der militärischen Spezialoperation zu erreichen". Die rhetorische Schönfärberei soll verschleiern, was sich in den vergangenen Tagen tatsächlich abgespielt hat: Russlands Verbände in der Provinz Charkiw haben infolge der ukrainischen Offensive Hals über Kopf die Flucht ergriffen.

Eine Drohnenaufnahme vom Sonntag zeigt mehrere Dutzend militärische Fahrzeuge, die sich in der Nähe von Isjum vor einem provisorischen Übergang über den Fluss Oskil stauen. Daneben ist eine eingestürzte Betonbrücke zu erkennen, die zuvor von den Ukrainern zerstört wurde. Die Russen schaffen derzeit offensichtlich alles nach Osten, was sie an Kriegsgerät noch retten können.

Und auch sonst wird klar, dass sich Moskaus Truppen keineswegs auf einem geordneten Rückzug befinden. Bilder aus den von ukrainischen Soldaten befreiten Gebieten zeigen haufenweise Kriegsmaterial, welches die überrumpelten Russen in den früheren Stellungen zurückgelassen haben. So sind die Ukrainer auch auf mehrere gut gefüllte Munitionsdepots gestossen.

In den verlassenen Lagerräumen fanden sie unter anderem Artillerie- und Mörser-Granaten, Minen sowie Geschosse für die Panzerabwehr. Die Ukrainer, die in vielen Fällen identische Waffensysteme verwenden, können die zurückgelassene Munition nun ins eigene Arsenal aufnehmen. Bereits wird in den sozialen Netzwerken gewitzelt, nicht die USA würden die meisten Waffen an die Ukraine liefern, sondern Russland.

Lend-lease from Russians
Ukrainian soldiers showed the full Russian ammunition depot that they captured in the Kharkiv direction during the offensive. The "gift" Russian left have been already loaded for the proper use in the next battles. pic.twitter.com/oEO0pF5jJE
- Euromaidan Press (@EuromaidanPress) September 10, 2022

Ukrainer übernehmen russische Panzer

Viel eindrücklicher - und militärisch gesehen bedeutsamer - ist allerdings die grosse Zahl von Fahrzeugen und Panzern, welche nach dem Rückzug der Russen zurückgeblieben sind. Manche von ihnen sind komplett zerstört und zeugen von den teilweise heftigen Kämpfen, welche der Befreiung der Gebiete vorangegangen sind. Andere sind verrostet oder abgewrackt und waren offenbar schon seit Monaten nicht mehr am Kampfgeschehen beteiligt.

Dazu kommen aber auch Dutzende Fahrzeuge, die nach wie vor voll einsatzfähig sind. Teilweise wurden sie bereits von den ukrainischen Streitkräften übernommen. Bilder zeigen zum Beispiel einen Schützenpanzer, auf dem die russischen V-Markierungen mit weissen Kreuzen, dem Symbol der Ukrainer, übermalt wurden. In einem Vorort der Stadt Isjum sind die Ukrainer auf einen verlassenen Fahrzeugpark gestossen, der neun Kampfpanzer des Typs T-80, einen Minenräumpanzer und mehrere Schützenpanzer umfasst - die meisten offenbar in funktionstüchtigem Zustand.

Video documenting a number of abandoned Russian armour in the outskirts of Izyum city.
In total nine T-80 series MBTs, an UR-77 Meterorit mine clearing vehicle, a BREM-1 ARV, two BTR-based vehicles & a BMP-2 IFV were captured all seemingly in working condition.#Russia #Ukraine pic.twitter.com/c8XbGjmyll
- BlueSauron (@Blue_Sauron) September 11, 2022

Die unabhängige Plattform Oryx, welche die Verluste von russischem Kriegsgerät dokumentiert, hat seit dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive Ende August mehr als 400 neue Einträge gemacht. Darunter befinden sich 131 Schützenpanzer, 89 Kampfpanzer, 36 gepanzerte Kampffahrzeuge und 20 Panzerhaubitzen.

Die Angaben beziehen sich auf die ganze Ukraine und umfassen auch Verluste an anderen Frontabschnitten. Zudem waren manche Panzer und Fahrzeuge wohl schon seit längerer Zeit nicht mehr funktionstüchtig, konnten aber erst jetzt, nach dem Rückzug der Russen aus den seit Monaten besetzten Gebieten, erfasst werden.

Russische Verluste seit dem 29. August

Russisches Kriegsgerät, das nachweislich zerstört, beschädigt oder erbeutet wurde (ganze Ukraine)

Quelle: Oryx NZZ / jon.

Für die russischen Streitkräfte sind die jüngsten Verluste dennoch verheerend. Einerseits haben sie wertvolles Kriegsgerät an die Ukrainer verloren, das diese nun einsetzen können. Andererseits fehlen ihnen wichtige Mittel, um weitere ukrainische Vorstösse abzuwehren oder eigene Angriffe zu unternehmen. Der polnische Militärexperte Konrad Muzyka geht davon aus, dass Russland in den nächsten sechs Monaten nicht in der Lage ist, wirksame Gegenoffensiven zu starten.

Laut dem amerikanischen Institute for the Study of War haben die russischen Okkupanten die aufgegebenen Gebiete bei ihrem überhasteten Rückzug zudem kaum vermint - anders, als sie das im April in den Territorien im Norden von Kiew getan hatten. Das dürfte den Ukrainern dabei helfen, weiterhin rasch voranzukommen und verlassene russische Stellungen zu übernehmen.

Russland hat über tausend Panzer verloren

Immer deutlicher zeichnet sich ab, welches militärische Desaster die russischen Invasoren in der Ukraine erleben. Das gigantische Waffenarsenal, das sie in der Provinz Charkiw zurückgelassen haben, macht denn auch nur einen Bruchteil der gesamten Verluste in diesem Krieg aus. Seit dem 24. Februar weist die Plattform Oryx 5800 Einträge aus - Panzer, Kampfjets, Kriegsschiffe und weitere Waffensysteme, die entweder zerstört, beschädigt oder von den Ukrainern erbeutet wurden.

Russische Verluste seit Kriegsbeginn

Russisches Kriegsgerät, das nachweislich zerstört, beschädigt oder erbeutet wurde

Quelle: Oryx NZZ / jon.

So haben die Russen seit Kriegsbeginn mehr als 1000 Kampfpanzer verloren. Zum Vergleich: Die Schweizer Armee verfügt über lediglich 134 Kampfpanzer. Dazu kommen 1535 Lastwagen und Geländefahrzeuge, 1193 Schützenpanzer, 544 gepanzerte Kampffahrzeuge, 53 Flugzeuge, 48 Helikopter und 11 Kriegsschiffe. Da in der Datenbank von Oryx nur visuell bestätigte Verluste aufgenommen werden, ist davon auszugehen, dass eine Dunkelziffer besteht. Zweifellos haben auch die Ukrainer grosse Verluste zu verzeichnen. Oryx führt rund 1600 Einträge. Diese Zahl ist allerdings mit grosser Sicherheit zu tief angesetzt, da Verluste auf ukrainischer Seite kaum dokumentiert oder kommuniziert werden.

Im Telegram-Kanal des russischen Verteidigungsministeriums wird derweil weiterhin von angeblichen militärischen Erfolgen berichtet. Doch öffentlich zugängliche Quellen zeigen eine andere Realität. Für die Russen läuft in der Ukraine derzeit gar nichts nach Plan.


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